Schnitt ist nicht gleich Schnitt: Ein Interview über Filmfassungen mit Schnittberichte.com

Schnitt ist nicht gleich Schnitt: Ein Interview über Filmfassungen mit Schnittberichte.com

5. Februar 2019 Aus Von Thorsten Boose

Während den Recherchen zu meinem neuen Buch über die Filmlegende Jackie Chan, »Der neue deutsche Jackie Chan Filmführer«, sprach ich mit Redakteuren und Autoren der deutschsprachigen Filmwebsite Schnittberichte.com, die sich in der Vergangenheit ausführlich den zahllosen Fassungen von Jackie Chans Filmen gewidmet haben.

Schnittberichte.com ist eine der ältesten deutschsprachigen Websites überhaupt und zudem die beste Anlaufstelle, wenn es um Schnittberichte verschiedener Fassungen von Filmen aus aller Welt geht. Mit Leidenschaft und Adleraugen dokumentiert die Community von Cineasten aufs Genaueste die Unterschiede und stellt ihr Wissen kostenlos den Fans zur Verfügung.

Zum ersten Mal berichtet Gründer und Betreiber von Schnittberichte.com, Gerald Wurm, zusammen mit dem fleißigsten Reviewer von Jackie-Chan-Filmen, Muck47 (mit bürgerlichem Namen Tobias Maurer), über die Arbeit an Schnittberichten und deren gesellschaftlichen Stand. In diesem Artikel gibt es einen kleinen Auszug des Interviews, das gesamt im Buch »Der neue deutsche Jackie Chan Filmführer« zu lesen ist.

Logo von Schnittberichte.com

ein Interviewausschnitt von Thorsten Boose

In der Regel macht sich das Publikum selten Gedanken um die Filme, die es genießt, geschweige denn, dass es sie in verschiedenen Fassungen sichtet. Wie läuft solch eine Dokumentation eines Schnittberichtes ab? Wie viel Zeit investieren Sie pro Film und wann sind Sie zufrieden?

Tobias Maurer: Bei größeren Blockbustern gehen solche Hintergründe tendenziell eher durch die Medien, man denke da zum Beispiel an David Finchers Unzufriedenheit beim Dreh von „Alien³“ und den entsprechend umfangreich abweichenden Director’s Cut später.

Zuerst einmal erfährt ein Autor eben auf irgendeine Weise von einer besonderen Filmfassung und hat je nachdem ein persönliches Interesse, diese genauer zu dokumentieren. Über die Jahre hinweg spielt sich der zeitliche Aufwand ein hinsichtlich einzelner Komponenten wie Fassungszustand (Vorlagenfehler, detaillierte Eingriffe), textlicher Grundaufbau im Intro und Abweichungsbeschreibungen, Screenshots-Erstellung etc. Gerade der erste Punkt ist aber immer eine Wundertüte: 70er Filme haben tendenziell mehr Filmrisse in einer oder sogar beiden vorliegenden Fassungen, was speziell bei verschluckten Dialogen oder Einstellungen mehr Detailarbeit erfordert.

Bei Chan-Filmen wie „Der Protector“ oder „Mr. Nice Guy“ trügt zudem ein reiner Blick auf die Laufzeiten der Fassungen. Bei nur sehr geringer Differenz gibt es hier jeweils um die 300 einzelnen Abweichungsstellen – beim Protector durch etliche alternative Szenen, bei „Mr. Nice Guy“ durch diverse reine Straffungseingriffe. Einen solchen Umfang bewältigt man natürlich nicht mal schnell an einem Abend.

Zufriedenheit wird dann ebenso ganz unterschiedlich empfunden: Gerade bei „Der Protector“ war mir es mir aufgrund der spannenden Hintergründe zu Jackies eigener Hongkong-Filmfassung und dem allgemein hohen Interesse der Fans wichtig, auch einen entsprechend ausführlicheren Einleitungstext anzubieten.

Hier geht es direkt zur Filmseite von »The Protector«:
https://www.schnittberichte.com/svds.php?Page=Titel&ID=1342

Hier geht es direkt zur Filmseite von »Mr. Nice Guy«:
https://www.schnittberichte.com/svds.php?Page=Titel&ID=1186

Schnitt ist nicht gleich Schnitt. Wieso wird überhaupt geschnitten, und zwischen welchen Schnittarten unterscheiden Sie?

Tobias Maurer: In unserem Themengebiet herrscht häufig der Irrglaube, dass Schnitte einen Film zerstören – das ist per se natürlich Quatsch. Im Gegenteil machen sie aus einer Produktion mit etlichen Stunden Rohmaterial überhaupt erst einen irgendwie auf ein Publikum zugeschnittenes Produkt. Um mal etwas weiter auszuholen: Im Grunde kann man wohl zumindest zwischen vier verschiedenen Arten von Schnitten unterscheiden.

a) Ganz allgemein gibt es immer Straffungskürzungen, meist sogar ganze Szenen, die zugunsten von Dramaturgie und Dynamik noch vor der Veröffentlichung einer finalen Filmversion weichen müssen. So etwas ist gerade für Fans immer ein spannender Bonus und verständlicherweise in Form von „Deleted Scenes“ seit Jahren beliebter Bestandteil von Heimkino-Veröffentlichungen. Interessanterweise gibt es hier bei Jackie-Chan-Filmen kaum Beispiele, was wohl auch stark mit dem in Hongkong und insbesondere noch vor ein paar Jahrzehnten durchaus etwas lockeren Umgang mit Rohmaterial zusammenhängt. Gerade Titel wie „Meister aller Klassen“, die angeblich in der ersten beim Studio abgelieferten Version eine Laufzeit von rund 3 Stunden aufwiesen, wären da spannend. Umgekehrt sind dieser oder z.B. auch „Action Hunter“ wiederum Titel, bei denen man derartige zusätzliche Handlungsszenen in internationalen Exportfassungen sogar im Film integriert sehen kann – vielleicht sogar quasi als Ersatz für dort wiederum vorgenommene Schnitte, was zur nächsten Schnittart überleitet.

b) Bei Jackie-Chan- und allgemein asiatischen Filmen stößt man oft auf Schnitte für internationale Auswertungen in einer eigentlich schon fertigen Filmfassung, die so beispielsweise in Hongkong im Kino lief. Einerseits wird auch hier, wie bei Punkt a), einfach nochmal gestrafft. Ein Gedanke ist da sicher oft, weil man den Actionfilmen noch etwas mehr Schwung geben will. Oft glauben die Verleiher hier die Bedürfnisse des jeweiligen Marktes besser zu kennen. Ein Extrembeispiel wäre da wohl Jackies bewusst ruhig-ausschweifender „Miracles“, den man schon für den westlichen Export stark straffte und in Deutschland dann nochmal nachkürzte, um den Film mit rund 35 Minuten weniger Handlung eher als konventionellen Actioner vermarkten zu können. Auch der landeseigene und häufig eher alberne Humor wird westlichen Zuschauern seit jeher oft vorenthalten – in den 70ern bereits in z.B. „Sie nannten ihn Knochenbrecher“ oder „Zwei Schlitzohren in der Knochenmühle“, in den 80ern z.B. bei „Der Superfighter“ oder „Police Story“.

c) Schnitte alleine reichen den Verleihern aber manchmal nicht und so gibt es auch öfter mal Umschnitte sowie Alternativmaterial. Vereinzelt hat das Studio diese Anforderungen sogar schon beim Dreh beachtet und beispielsweise alternative Takes aufgenommen – oder mittels Nachdrehs lenkt man das Ganze nochmal in eine andere Richtung. Da ist ohne Frage Jackies „Der Protector“ wieder ein Musterbeispiel. Auch bei den internationalen Fassungen von den 90er-Filmen „Rumble in the Bronx“ oder „First Strike“ wurde ausgesprochen umfassend mit dem Rohmaterial getrickst bzw. dieses zum Teil ganz neu angeordnet und Szenenverläufe massiv umgestellt. Man kann so je nach vorliegender Fassung eigene inszenatorische Akzente erkennen, und im Grunde ist das somit häufig schon eine spannende Angelegenheit.

d) Einer einmal zum Beispiel im Kino ausgewerteten, finalen Filmfassung wird verständlicherweise üblich der insgesamt höchste Wert beigemessen. Zugunsten einer anderen lokalen Freigabe durchgeführte Zensurschnitte auf dieser Basis werden entsprechend besonders kritisch gesehen und sind Gegenstand etlicher Schnittberichte auf unserer Seite. Bei einem talentierten Cutter kann auch durchaus mal ganz spannend zu sehen sein, wie geschickt sich manchen Szenen die Brisanz nehmen lässt – amerikanische Eingriffe im Einzelbilderbereich fallen da oft auf. Ganz besonders in Deutschland und zu Beginn der Videozeiten ist man da aber deutlich grober vorgegangen. Viele Kaufhaus-Fassungen mit FSK 16 haben Sammlern da dank Anschlussfehlern und in Bild sowie Ton durchaus auffälligen Eingriffen Kopfschmerzen bereitet. Bei Polygrams Jackie-Chan-Collection auf VHS gab es hier von etlichen 70er/80er-Filmen aus Jackies Filmographie regelrecht absurd zensierte Fassungen, die heutzutage zum Glück der Vergangenheit angehören. Möglich war dies häufig durch eine erneute FSK-Prüfung einer ungekürzten Fassung, bei der man dank veränderter Zeitumstände nun zu einem milderen Urteil kam.

Weitere Hintergründe über Zensuren, Schnitte und Indizierungen sind in den drei hervorragend zusammengetragenen Artikeln von Schnittberichte.com zu lesen:

Manchmal kommt es vor, dass eine ungeschnittene Exportfassung Material enthält, welches in einer japanischen Langfassung seltsamerweise fehlt. Kann man hier überhaupt von einem ungeschnittenen Film sprechen? Wäre demnach nicht ein Hybrid aus beiden der ultimative Uncut-Movie?

Tobias Maurer: Solche Bastelarbeiten sind immer schwierig und generell sollte meiner Meinung nach dann doch eher den verschiedenen Studio-Fassungen der Vorzug gegeben werden. Lieber beide Fassungen als Kunstwerke für sich stehen lassen oder für eine entscheiden. Beim Kombinieren versuchen an der eigentlichen Produktion unbeteiligte Parteien stattdessen oft passend zu machen, was nicht passt.

Ein klassisch bei uns diskutierter Extremfall ist da wohl Romeros Zombie-Klassiker „Dawn of the Dead“, den Astro damals als 154 Minuten langen „Final Cut“ auf DVD veröffentlichte. Die von Dario Argento entworfene „Exportfassung“ enthielt hier zusätzliche Szenen, jedoch auch einen komplett eigenen Score, sodass sich gerade die Tonspur massiv unterscheidet. Für den „Final Cut“ hat das deutsche Label ganz ohne Mitwirkung der eigentlichen Filmverantwortlichen dann einfach alles zusammengeworfen und noch mit aufgefundenen Deleted Scenes oder ähnlichem Rohmaterial aufgefüllt.

Auch diese Fassung hat ihre Fans gefunden, gemeinhin herrscht allerdings die Meinung, dass es sich um eine nicht zu empfehlende Patchwork-Version handelt – nicht zuletzt wegen den Abweichungen auf der Tonspur.

Ein ähnliches Unding hat man bei der ersten japanischen Blu-ray von „Der Protector“ versucht. Dort findet man eine rund 105 Minuten lange Fassung, die in die US-Fassung Szenen aus Jackies Hongkong-Cut einfügt. Vollständig und somit „ultimativ uncut“ ist das aber nicht mal im Ansatz geworden, der Filmfluss wird durch das unterschiedliche Material auch eher gestört.

Rein von der Tonspur ist da auch die Exportfassung von „Meister aller Klassen“ ein Sorgenkind, denn nur dort hört man durchgängig einen flotten Score im Hintergrund. Als Splendid diese kurze Tonspur auf die ungekürzte Fassung angepasst hat, sind immer zwischendrin auffällige Wechsel entstanden. Diesen Film schaue ich persönlich in der Hongkong-Kinofassung nur im O-Ton, auf Deutsch hingegen sei auf die für die deutsche Blu-ray erfreulicherweise sogar mit den zusätzlichen zwei Szenen rekonstruierte Exportfassung verwiesen.

Noch besser ist die japanische Kinofassung, welche bis kurz vor Schluss dem Verlauf der Exportfassung folgt und den Endkampf dann in der fast 10 Minuten längeren Originalform zeigt. Sie ist auf der neuen japanischen Blu-ray sogar mit dem hochwertigen englischen Original-Dub von Golden Harvest (enthält auch den flotten Score) in HD enthalten.

Hier geht es direkt zur Filmseite von »The Young Master«:
https://www.schnittberichte.com/svds.php?Page=Titel&ID=1137

Das ganze Interview mit Gerald Wurm und Tobias Maurer von Schnittberichte.com können Sie im neuen Kompendium »Der neue deutsche Jackie Chan Filmführer« nachlesen.

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Das beinhaltet das neue Jackie-Chan-Buch aus Deutschland

Der neue deutsche Jackie Chan Filmführer, 2018

Jackie Chan. Actionheld, Regisseur, Sänger, Entrepreneur und seit 2017 stolzer Preisträger des Ehrenoscars. Der sympathische Hongkong-Chinese blickt auf eine 56-jährige Filmkarriere zurück. Bereits jung als Schüler der China Drama Academy zum Entertainer ausgebildet, prägten ihn Disziplin, Demut und der soziale Gedanke. Doch vor seinem Erfolg standen dubiose Filmauftritte, eine Auswanderung sowie die Verfolgung von der chinesischen Mafia.

Heute ist Jackie Chan weltweit bekannt und Chinas einflussreichster Star. Jackie Chan wurde zur Marke. Dieses ultimative Nachschlagewerk beinhaltet nicht nur die vollständige sondern auch weltweit detaillierteste Filmografie des ehemaligen Stuntmans. Fehlinformationen werden aufgedeckt, vergessene Filme wieder in Erinnerung gerufen, Jackie Chans Arbeiten im Fernsehen genauer unter die Lupe genommen und zahlreiche Bezüge zur Popkultur wie Musik und Videospiele geschaffen.

Dank exklusiven Interviews mit Filmemachern wie Roberta Chow, Tochter des Golden-Harvest-Gründers Raymond Chow, erhalten Fans einen seltenen Einblick in die Geschichte des Hongkong-Kinos. Nie zuvor veröffentlichte Informationen sowie ein großzügiger Bonusteil und zahlreiche Heimkino-Tipps lassen Fanherzen höher schlagen.

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Der neue deutsche Jackie Chan Filmführer
ISBN: 978-3-95631-696-8, 364 Seiten, 23,90 EUR
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